Frankfurter Rundschau, 30. Januar 1996
Der Mainzer Fastnacht droht Anarchie
Alternative Drecksäck-Sitzung: Nicht zu links, um laut zu lachen / „Echter Bulle“ macht mit
Von Michael Grabenströer
In Mainz dauert alles ein wenig länger. 15 Jahre seit der ersten „Stunk-Sitzung“ in Köln mussten vergehen, bis die Mainzer Alternativen fern ab vom „Fastnachts-Mief“ der traditionellen „Meenzer“ Karnevalsgesellschaften eine eigene Sitzung auf die Beine stellten und die Fesseln der Fernsehfastnacht abstreiften. Mainzer „Trunk-Sitzungen“ sollten den Kontrapunkt zu den Prunksitzungen der Alt-Vereine bilden. Die linke Karnevals-„Avant-Garde“ ohne Dienstgrade bekannte sich ausdrücklich zur subversiven Narretei und besann ssich auf eine freche, respektlose Fastnacht, schließlich sei man „nicht zu links, um laut zu lachen“.
Dabei stampften die „Drecksäck“, Grüne, Sozen und Ungebundene, innerhalb von zwei Monaten eine Sitzung aus dem Boden, die etwas von dem spontanen Schwung vermittelte, den die Mainzer Fastnacht einmal fernab steifer Protokoller gehabt haben muß. Respektlos, auch gegenüber der eigenen Klientel, ging man in die Bütt, kritisierte die lustlosen Alternativen, die den „Häschen die Karotten wegfressen“. Für die, die ihre Feindbilder unreflektiert pflegen, brachte man einen „echten Bullen“ in Uniform auf die Bühne. Jürgen Diertler aus Mainz, im Hauptberuf Polizist in Hessen, flehte ironisch und komisch um „eine Chance“ für Minderheiten wie ihn. Manche Nummer orientierte sich stärker am Kabarett als am Mainzer Büttenredner-Sing-Sang.
Die eingesessenen Festkomitees rümpften über die Konkurrenz der „Drecksäck“, nicht nur karnevalistisch grün hinter den Ohren, nur die Nase. Gute Redner hätte man schon längst entdeckt, meinte ein angestammter Präsident öffentlich überheblich, ohne auch nur eine Nummer gesehen zu haben. Dabei könnten einige erfrischende Alternativ-Auftritte der Mainzer Fernsehfastnacht durchaus zu höheren Einschaltquoten verhelfen.
Ein weiteres grün-alternatives Fastnachtsprojekt allerdings wurde in den eigenen Reihen gekippt. Der Landeshauptausschuss der Grünen wollte nicht Partei-Finanzmittel, knapp über 7000 Mark, für einen Karnevalswagen bereitstellen, mit dem die Grünen als „Jim Knopf und die Wilde 13“ am Rosenmontag durchs närrische Mainz rollen wollte. Was dem CDU-Landeschef Johannes Gerster als „Obrist“ (Grünen-Spott) der Ranzengarde recht ist, das sollte dem Grünen Vorstandssprecher Mehdi Jafari-Gorzini billig sein. Die grünen Frauen jedoch spielten nicht mit. „Wir wollen nicht als Mehdis Harem durch Mainz rollen“, entrüstete sich Spitzenkandidatin Gisela Bill.
Und so werden sich die Mainzer Alternativ-Karnevalisten nicht „hoch auf dem grünen Wagen“, sondern subversiv zu Fuß der Fastnacht bemächtigen. Wir werden den Rosenmontagszug „unterwandern“, klang die Parole am Rande der ausverkauften Trunk-Sitzungen. Schon hofft man auf den ersten „Karnevals-Kessel“ in Mainz, wenn sich die „Drecksäck“ nebst neuen Fans entgegen der strikten Narren-Ordnung in den Zug einreihen, „wo es uns gefällt“. Das wäre in „Meenz“ der Beginn der Narren-Anarchie und mit allen Mitteln zu verhindern: So wurde den respektlosen Neu-Narren, die die Narren zum Narren halten wollen, bereits inoffiziell eine feste Zugnummer angeboten. Der Durchmarsch ins Narren-Establishment kann beginnen.