Mainzer Rheinzeitung, 19. Februar 1996
Um 13.08 Uhr erlebte Mainz einen historischen Augenblick: Subversive Elemente schlichen sich in den Zug ein
"Seid Ihr etwa die Drecksäck?"
"Avant-Garde" der "annern Fassenacht" stieß auf viel Sympathie - Schlußlied für Krawietz
MAINZ. PHE. 19. Februar 1996, 13.08 Uhr. Mainz erlebt einen historischen Augenblick: In der Boppstraße, in Höhe des Bonifaziusplatzes, reiht sich eine Gruppe schmutzig und etwas heruntergekommen aussehender Menschen in den Rosenmontagszug ein. Subversive Elemente, die es sich zum Ziel gemacht haben, der "annern Fassenacht" zu frönen. Sie bezichtigen sich selbst, der "Avant-Garde" anzugehören, eine neue Erscheinung im Sammelsurium altehrwürdiger Korporationen wie Ranzengarde, Prinzengarde oder Garde der Prinzessin. Ganz klar, wer sich da als inoffizielle Nummer "68 a" eingeschlichen hat: die "Meenzer Drecksäck", erst seit wenigen Monaten im Geschäft - aber das mit voller Kraft. Gut zwei Stunden haben sie am Wegrand auf diesen Moment gewartet. Zwei Stunden, in denen so manches "Helau" zum Warmmachen über die Lippen kam, in denen die jüngsten "Drecksäck" (Max, 8 Jahre, und Brüderchen Michel, 4 Jahre) schon einmal auf Bonbonjagd gehen konnten, und in denen auch der ein oder andere Aktive im Zug begrüßt wurde. So huldigte Dieter Krämer, "Drecksack" der ersten Stunde, per Megaphon dem bundesweit bekanntesten Ranzengardisten: "Wir begrüßen den Möchtegern-Ministerpräsidenten Johannes Gerster. Loser aller Länder, vereinigt Euch." Auch Oberbürgermeister Herman-Hartmut Weyel sollte nicht leer ausgehen. Der OB, zum zweiten Mal in Folge im Troß der Weisenauer Burggrafengarde, hatte am Wochenende beim Gonsenheimer Rekrutenumzug (in einem Anflug von Populismus?) kundgetan: "Es gibt Fastnachter und Drecksäck." Dieter Krämers Retourkutsche: "Drecksack bleibt Drecksack, und Weyel bleibt Weyel." Ob er's verstanden hat? Jedenfalls bedankte sich der oberste Repräsentant der Stadt mit einem beidarmigen Winken. Genug gelacht. Als der erste Regenschauer einsetzt, wird es ernst. Angeführt von den vereinseigenen Ordnungskräften Gerold Brand und Klaus Cartus (der begrüßt das Volk am Straßenrand mit einem lautstarken "Hellblau" und weicht erstaunlicherweise während der nächsten sieben Kilometer auch nicht mehr von dieser Variante ab) bahnen sie sich ihren Weg. Demo-Erfahrung Trotz des "Prunkwagens" (ein Handkarren), auf dem laut "Ober-Filzlaus" Günter Beck das "Komitee des MCV aus dem Jahre 2010" (bereits erwähnter Michel Beck) thront, legen sie zunächst einmal ein höllisches Tempo vor. Motto: Als 68. gestartet, als 50. angekommen. Aber mit solchen Kleinigkeiten werden gestandene "Drecksäck" im Nu fertig. "Wofür haben wir denn früher an so vielen Demonstrationen teilgenommen", sagt Astrid Becker . Für offensichtliche Erheiterung unter den Schaulustigen sorgen die Symbole des jüngsten Mainzer Fassenachtsvereins: zwei große pralle Kartoffelsäcke mit jeweils einer roten herausgestreckten Zunge. Zwar sucht so mancher Meßfremde im Programmheft nach einer Erklärung (vergebens, wie wir wissen, weil sich die "Drecksäck" ja nahezu illegal eingeschleust haben). Die Einheimischen aber wissen sofort, mit wem sie es hier zu tun haben. "Helau, ihr Drecksäck", schallt es der gut 20köpfigen Gruppe immer wieder entgegen. Nur eine ältere Dame in der Rheinstraße will es ganz genau wissen. "Seid Ihr etwa die Drecksäck?" Was sich im ersten Moment ein wenig bedrohlich anhört, löst sich nach der bejahenden Antwort in einem Urschrei auf: "Heeeelaaaauuuu". Daß es sich hier um Menschen handelt, die manch etablierten Fastnachter das Fürchten lehren wollen, stört, wie's ausschaut, niemanden. Selbst von der Ehrentribüne vor dem Staatstheater werden die subversiven Grüße erwidert. Immerhin wird Ministerpräsident Kurt Beck, OB Weyel und der übrigen Prominenz die Ehre eines dreifachen "Drecksack-Schwenkens mit zwei Drecksäcken" zuteil. Am Schillerplatz begrüßt Moderator Klaus Hafner die "Neuzüchtung der Meenzer Fassenacht" mit einem freundlichen närrischen Gruß. Und als um 14.37 Uhr, nach anderthalb Stunden Marsch, Zugmarschall Ady Schmelz für einen herzlichen Händedruck bereitsteht, wäre eigentlich alles vorbei. Käme da nicht noch die Gonsenheimer Abteilung mit Füsiliere-Chef Rudolf Zeuner und dem "Eiskalten Bruder" Peter Krawietz; beide nicht gerade erklärte Freunde der "annern Fassenachter". So wird denn der Generalfeldmarschall gleich mit einem sechsfachen "Dreck - Sack" begrüßt. Und als das Komitee der Eiskalten vorüberrollt, klingt vom Straßenrand ein Lied, in dem von Krawietz, Fahrrädern und anderen Dingen die Rede ist. Bei aller (neuentdeckten) Liebe zur Straßenfastnacht: Das sind die "Drecksäck" sich und ihrem Ruf schuldig.